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Unterwegs mit dem Canadian: Warten auf ...

Die Panorama Lounge der Toronto Union Station platzt aus allen Nähten. Wer jetzt noch kommt, muss auf einer der Fensterbänke oder auf dem Boden sitzen. Zwischen all den Reisenden schwirrt ein VIA Rail Mitarbeiter umher. Er redet auf die Leute ein und verteilt kleine, gelbe Märkchen. Irgendwann steht er vor uns. Er erklärt uns etwas von rollierenden Essenszeiten, dass jeder Mal früher oder später essen gehen müsse. Fairness geht in Kanada vor, auch bei den Mahlzeiten! Das Essen scheint also gesichert zu sein. Leider weiß niemand, wann der Zug abfährt. Eigentlich hätte es gestern Abend schon losgehen sollen, aber es gab Probleme auf der Strecke, so die Information von VIA Rail. Wir stecken unsere Essensmarken ein, machen es uns in unseren Sesseln wieder bequem und warten.
Es ist für mich nicht ersichtlich wieso, aber es kommt Bewegung in die Menge. Wir folgen der Masse Richtung Untergeschoss. Vor dem Aufgang zum Bahnsteig gibt es für jeden ein Lunchpaket und eine Wasserflasche. Irritiert stehen wir am Bahngleis. Eine Wagenstandanzeige scheint es nicht zu geben. Wir schauen nach rechts, nach links und sehen eine endlose Reihe von gleich aussehenden silberfarbenen Wagons. Welcher ist nun unserer? Da taucht jemand vom Personal auf, wirft einen kurzen Blick auf unsere Tickets und zeigt Richtung Lok. Der übernächste Wagon ist der Richtige. Schnell klettern wir in den Zug, folgen einem schmalen Gang und stehen vor unserem Abteil. Das Abteil ist zum Gang hin offen und hat zwei große Sitzbänke. Hier werden wir die nächsten zwei Tage verbringen.

Zugfahrt VIA RAIL Toronto
© Copyright M. Rameken 2021
Mit dreiundzwanzig stündiger Verspätung setzt sich der Canadian langsam in Bewegung. Die Hochhäuser Torontos ziehen an unserem Fenster vorüber.

Turnübungen und Schlafplätze

Schnell kommen wir mit den Mitreisenden der beiden anderen Abteile ins Gespräch. Unsere Nachbarn sind zwei kanadische Rentnerinnen sowie ein junges Paar aus der Schweiz. Die Kanadierinnen wollen ihre Schwester auf Vancouver Island besuchen. Auf die Fahrt mit dem Canadian hätten sie sich sehr gefreut. Sie kichern nervös und wollen wissen, wo sie denn heute Nacht schlafen werden.
Die Übernachtungsfrage klärt sich schnell, als zwei resolute VIA Rail Mitarbeiterinnen vor uns stehen. Die beiden sind unsere Zugbegleiterinnen bis Winnipeg. Eine ihrer Aufgaben ist das Auf- und Abbauen der Schlafkojen. Ob sie die Betten für die Nacht vorbereiten könnten, fragen sie. Alle nicken müde. Schon steht eine der beiden auf der Armlehne unserer Sitzbank und beginnt das obere Bett aufzuklappen und vorzubereiten. Ich schaue verwundert zu ihr hinauf und frage mich, was wohl der deutsche Arbeitsschutz zu ihren Turnübungen sagen würde. Nach fünf Minuten Herumhantieren, was für mich nach Schwerstarbeit aussieht, ist unsere Schlafkoje fertig. Ein dicker Vorhang zum Gang schafft die nötige Privatsphäre. Langsam scheinen auch die Kanadierinnen zu verstehen, wie das mit dem Schlafen funktioniert und dass sie sich mit den fremden Schweizern arrangieren müssen, die ihre oberen Betten belegen.
Zugfahrt VIARAIL Toronto Winnipeg
© Copyright M. Rameken 2021
Mein Mann klettert nach oben in seine Koje, die kein Fenster hat. Kein Problem, die Nacht sei ja zum Schlafen da, so seine Worte. Nach fünf Minuten höre ich sein leises Schnarchen. Ich mache es mir im unteren Bett bequem und schaue durch das Fenster hinaus in die Nacht. Dann schlafe auch ich ein.
Am nächsten Morgen schwanken wir zum Speisewagen. Die Fahrt mit dem Canadian ist eine schaukelige Angelegenheit. Ich bewundere bei jeder Mahlzeit das Personal, das problemlos Speisen und Getränke serviert. Ob es einen Trick gibt, will ich wissen. Sie winken ab und meinen, das sei alles Übungssache. Ich bleibe skeptisch und trinke vorsichtig aus meiner Tasse.
Als wir vom Frühstück zurückkommen, ist unsere Schlafkoje wie von Zauberhand wieder in zwei Sitzbänke umgebaut worden. Und schon haben wir die ersten Gäste, ein amerikanisches Pärchen im Rentenalter, in unserem Abteil stehen. Wenn es sich auf dem schmalen Gang Mal wieder staut, laden wir gerne zu uns ein.

Kanada Eisenbahn CN
© Copyright M. Rameken 2020
Am Vormittag hält der Zug für eine halbe Stunde in Hornepayne. Die Wasservorräte müssen aufgefüllt werden. Hornepayne, das sind ein paar Häuser und Geschäfte. Eine Stadt, die ihre Existenz der Eisenbahnstrecke verdankt. Wir steigen aus und stehen im Staub. Einen Bahnsteig gibt es nicht. Auf den Nebengleisen warten mehrere Güterzüge. Die Gleise, die wir jetzt in Ruhe bestaunen können, ziehen sich wie Schlangenlinien durch die Landschaft. Kein Wunder, dass es im Canadian so holprig zugeht. Nervös behalte ich unseren Wagon und meine Uhr im Auge. Hier möchte ich nicht den Rücklichtern des davonfahrenden Zuges nachschauen. Der nächste käme erst in drei Tagen oder wer weiß wann.

Unterwegs

Die Tage im Zug haben ihren eigenen Rhythmus. Die wesentlichen Eckpfeiler sind die drei Mahlzeiten. Sitzen wir nicht beim Essen, pendeln wir zwischen unserem Abteil und dem Panoramawagen hin und her. Für den kleinen Hunger zwischendurch gehen wir in die Kaffeeküche. Dort können wir uns mit Obst, Muffins, Tee und Kaffee versorgen. Die erste Hälfte des Tees trinke ich an einem der Tische. Meist treffe ich dort die Kanadierinnen, die verzweifelt versuchen, telefonischen Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. In den kanadischen Weiten scheint es aber Glückssache zu sein, ob man Netzabdeckung hat oder nicht. Meist hat man wohl keine, wie ich den entnervten Kommentaren der beiden entnehmen kann.

VIA Rail Canadian
© Copyright Silke Rameken 2020

Kilometer um Kilometer zieht eine einsame Landschaft an uns vorbei. Wir sehen vereinzelt Häuser, kleine Ortschaften, ansonsten endlose Nadelwälder und unzählige Seen. Zum Ende unserer Reise wird die Landschaft felsiger. Häufig sind die Seen noch mit einer Eisschicht bedeckt, was uns zu denken gibt. Wir wollen in ein paar Tagen zelten. Wie kalt werden die Nächte sein, fragen wir uns.
Das da draußen ist für mich immer präsent. Während mein Mann zwischendurch liest oder döst, muss ich ständig aus dem Fenster schauen. Ich könnte ja etwas verpassen. Sogar in der Nacht mag ich nicht schlafen und schaue nach draußen. Sehe den Sternenhimmel, die vorbeiziehenden Lichter.
Oft warten wir auf einem Ausweichgleis auf den entgegenkommenden Zug. Der Güterverkehr hat auf der eingleisigen Strecke Vorrang. Dann starre ich hinaus und hoffe, dass ein Bär oder ein Elch aus dem Unterholz tritt. Aber ich sehe nur den Lokführer wie er sich neben den Gleisen die Beine vertritt und eine Zigarette raucht. Mein Mann nutzt die Standzeit, um am Rand der Bahnstrecke vergessene Dinge wie Besen oder Pylone zu fotografieren.

Zugfahrt Toronto Winnipeg
© Copyright M. Rameken 2021
Wir hören eine Durchsage. Genau hier habe der Zug sieben Stunden auf der Fahrt nach Toronto gestanden. Wir schauen aus dem Fenster und sehen das, was wir schon seit Stunden sehen, nämlich Nadelwald. Vor einigen Tagen seien an dieser Stelle die Gleise unterspült gewesen, erfahren wir weiter. Das war also der Grund für unsere verspätete Abfahrt.

Go Jets, Go!

Während wir die vorbeiziehende Landschaft bestaunen, scheint das Zugpersonal durch etwas anderes in den Bann gezogen zu sein. Sie starren auf ihre Handys. Wir sehen ernste Gesichter. Als wir ihnen erzählen, dass wir nur bis Winnipeg fahren, sind sie begeistert. Wir müssten uns unbedingt ein Spiel der Jets ansehen. Wir schütteln verständnislos den Kopf. Zurzeit fänden die Eishockey Playoffs statt, erzählen sie. Ach so. Was dem Deutsche sein Fußball, ist dem Kanadier sein Eishockey. Die Winnipeg Jets würden gegen die Nashville Predators um den Einzug ins Halbfinale spielen. Wir sind neugierig geworden auf Winnipeg im Jets-Fieber.
Am letzten Abend unserer Reise dürfen wir uns den renovierten Barwagen der Prestige Klasse ansehen. Dazu müssen wir den kompletten Zug durchqueren. Wir schwanken durch diverse Speisewagen, zwängen uns vorbei an anderen Gästen. Aber der Weg hat sich gelohnt. Ich betrete die Bar und fühle mich in die 30er Jahre zurück versetzt. Die beiden Barkeeper sind passend zum Ambiente gekleidet, wir weniger. Beide ganz elegant im schwarzen Anzug und Fliege, wir in Jeans und Turnschuhen. Mit unserem Outfit passen wir aber gut zu den Shorts der anderen Gäste.
Wir nehmen in großen Ledersesseln Platz und blicken durch das Rückfenster des Wagens nach draußen. Die Gleise verlieren sich in der Dämmerung. Es lässt sich wahrlich schlechter reisen, denke ich mir und bestelle einen Weißwein. Wir stoßen auf unseren letzten Abend im Zug an. Eine aufregende und holprige Fahrt war!
Gegen fünf Uhr morgens kommen wir in Winnipeg an, dürfen aber nicht aussteigen. Erst wenn die neue Crew da ist, werden die Türen des Zuges geöffnet. Wir warten eine knappe Stunde, blicken auf die Bahngleise, Güterzüge und die aufgehende Sonne. Das Personal macht Scherze mit den Kanadierinnen. Ab Winnipeg würde die Eisenbahnstrecke holprig und staubig werden. Die Damen schauen entsetzt und ich denke nur: Noch holpriger?

Lust auf eine Fahrt mit dem Canadian? Dann unbedingt bei VIA Rail vorbeischauen!

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