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Hinterm nächsten Hügel links

Sind wir in eine Geisterstadt geraten? Kreuz und quer fahren wir durch Gravelbourg, aber niemand ist zu sehen. Obwohl verboten, umrunden wir die Verkehrsinsel vor der Kathedrale. Aber auch das lockt niemand auf die Straße. Vor dem Lebensmittelgeschäft ebenfalls gähnende Leere. Das macht aber Sinn, denn das Geschäft ist geschlossen. Dumm nur für uns, denn hier wollten wir unsere Vorräte auffüllen.
Wir betreten einen trostlosen und menschenleeren Subway. Scheinbar der einzig geöffnete Laden weit und breit. Wahllos bestelle ich etwas und setze mich an einen Tisch. Jemand betritt den Fast-Food-Laden. Ihm werden noch einige andere folgen. Es gibt also doch Menschen in Gravelbourg, was uns irgendwie beruhigt. Aber keiner von ihnen will bleiben. Alle parken nahe der Eingangstür, kommen rein, bestellen, nehmen ihr Essen und gehen wieder. Ich kann sie gut verstehen.
Im Auto werfen wir einen Blick auf die Tankanzeige. Haben wir wenigstens genügend Sprit? Zum Glück ja, denn eine Tankstelle gibt es hier auch nicht. Also weiter Richtung Süden. Noch knapp 100 Kilometer Asphalt liegen vor uns.

Ein grünes Meer

Sasketchewan
© Copyright Silke Rameken 2020

Die Straße verschwindet in einem Meer aus grünen Hügeln. Am liebsten würde ich auf einen dieser Wellenkämme steigen, um zu sehen, was dahinter liegt. „Wahrscheinlich nur weitere Hügel“ meint mein Mann. Manchmal sehen wir eine Stromleitung, manchmal einen Weidezaun, selten eine Farm. Uns kommt ein monströser Mähdrescher entgegen, der die komplette Straßenbreite ausfüllt. Hinter welchem Hügel der wohl sein Zuhause hat, frage ich mich. Eine Farm kann ich nicht entdecken. Die Anzahl der entgegenkommenden Autos sinkt gegen Null. Begegnet uns doch noch jemand, werden wir mit einer kurzen Handbewegung freundlich gegrüßt. Freudig winkt mein Mann zurück.

Willkommen im Grasslands National Park!

Wir biegen auf eine Schotterpiste ab. Nach einigen Kilometern Staub tauchen in einer Senke ein Blockhaus, Baucontainer und ein verlassener Platz auf. Das sind also der Campingplatz und das Besucherzentrum des Grasslands National Park? Der Zeltplatz erinnert mich an eine Behelfslandebahn irgendwo im Nirgendwo. Wir parken unseren Wagen vor dem Blockhaus. Nur zögerlich steigen wir aus und betreten das Haus.
Drinnen werden wir herzlich von zwei Ranger Damen begrüßt. Sie sind sichtlich erfreut über unseren Besuch. Ob der Zeltplatz schon geöffnet sei, fragen wir verunsichert. Aber ja doch! Wie lange wir denn bleiben wollten? Mein Mann und ich tauschen fragende Blicke aus. „Zwei Nächte“ sage ich mutig. Kein Problem, einfach einen Platz aussuchen und später einem der Ranger Bescheid geben, für welchen Platz wir uns entschieden hätten. Bis 18 Uhr wäre noch jemand von ihnen da. Danach seien wir uns hier draußen selbst überlassen. Falls ein Unwetter aufziehen sollte, besser die Nacht im Auto verbringen, der abschließende Rat. Ein Unwetter? Das kann ja heiter werden.
Ich blicke mich um. Auf den wenigen Quadratmetern sind Besucherzentrum, Zeltplatz-Rezeption, diverse Ständer und Regale mit T-Shirts, Tassen und Traumfängern untergebracht.
Wir kommen mit einer der beiden Frauen ins Gespräch. Sie erzählt uns, dass sie in der Nähe wohne. Sie lebe alleine mit ihren Pferden auf einer Ranch. Ihre einzigen Nachbarn im Umkreis von zwanzig Kilometern ein Farmer sowie die Touristen des Nationalparks. Als Nebenerwerb betreibe sie eine Paintball-Arena. Zum nächsten Geschäft, Tankstelle sei es halt etwas weiter. Aber alles kein Problem! Sie erzählt vom letzten schneereichen Winter. Zwei Tage sei sie ohne Strom und von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Sie spricht mit einer Selbstverständlichkeit, die uns Stadtkinder beeindruckt.
Während wir so miteinander reden entdecke ich ein Schild an der Wand und bekomme große Augen. Gegen Bezahlung wird den Gästen morgens und/oder abends ein Picknickkorb mit Lebensmittel zum Zelt gebracht. Ein besonderer Service der beiden Damen. Zubereiten müsse man die Sachen selbst, erklären sie uns augenzwinkernd. Unsere Vorräte sind bis auf Reste von Haferflocken, Trockenobst, Brühe und eine Schachtel Cracker aufgebraucht. Überglücklich bestellen wir unseren ersten „Zimmerservice“ des Lebens.

Zimmer mit Aussicht

Trotz der dunklen Wolken, die von Süden in unsere Richtung ziehen, bauen wir unser Zelt und die Campingstühle auf. Blitze zerschneiden den Horizont, manchmal hören wir dumpfes Grollen. Langsam rollt ein Wagen vorbei. Zwei unbekannte Gesichter winken uns zu. „Ob die zu den fest installierten Zelten wollen?“ frage ich. „Weiß nicht.“ antwortet mein Mann. „Zumindest wären wir dann nicht mehr alleine auf dem Campingplatz.“

Grasslands National Park
© Copyright Silke Rameken 2020

Bis auf das Blockhaus und die seltsamen Container sehen wir keine Zeichen von Zivilisation. Wir blicken auf beige-grüne Hügel. Das ist also die Prärie. Erwartungsvoll schaue ich in die Landschaft. Müssten jetzt nicht ein paar Rinder und Cowboys auftauchen? Oder Winnetou vorbeireiten? Die ersten Goofer kommen aus ihren Löchern und beobachten uns. Die Ranger hatten uns vor den hungrigen Plagegeistern gewarnt. Die kleinen Nager sähen putzig aus, wären aber hinter allem Essbaren her.
Ein Wagen mit Wohnanhänger fährt über eine Kuppe. Der kleine Anhänger hüpft auf und ab. Langsam fährt das Gespann den Hügel hinab und zieht eine Staubwolke hinter sich her. Das Fahrzeug biegt zum Campingplatz ab und hält auf einer freien Parzelle. Ein Ehepaar steigt aus. Ich betrachte den winzigen Anhänger und frage mich wie zwei erwachsene Personen da drin bequem Platz finden. Die Frau geht zum Anhänger und klappt die Rückwand auf. Neidisch blicke ich auf eine Mini-Küchenzeile. Unsere „Küche“, das sind zwei Plastikkisten.
Plötzlich steht ein Mann neben uns. „Woher aus Manitoba kommt ihr? “ will er wissen und fügt hinzu: „Ich hab euer Nummernschild gesehen. Meine Frau ist aus Manitoba.“ Wir seien aus Deutschland und hier im Urlaub, erklären wir. „Ich bin Karl und mache mit meiner Frau einen Kurztrip. Wir kommen aus Toronto.“ stellt er sich vor. „In Deutschland war ich schon. Eure Autobahnen sind echt klasse!“ „Habt ihr euer Frühstück auch bei den Rangern bestellt?“ fragt Karl weiter. Wir nicken. „Super! Dann kommt doch mit eurem Frühstückskorb bei uns vorbei. Wir haben eines der Zelte gemietet.“ sagt er und zeigt den Hang hinauf. „Es gibt einen großen Grill, Tisch und Stühlen auf der Terrasse. Wird bestimmt nett!“ Gerne nehmen wir seine Einladung an. „Jetzt besuche ich mal die Ranger. Ich will wissen, ob es hier auch Dachse gibt. Die möchte ich unbedingt sehen. Dann bis morgen um neun.“ Karl verabschiedet sich und marschiert Richtung Blockhaus.
Die Nacht bleibt ruhig. Irgendwann muss ich auf Toilette. Nur sehr ungern verlasse ich meinen warmen Schlafsack, aber der nächtliche Ausflug lohnt sich. Die Nacht ist sternenklar und rote Leuchtstreifen am Boden weisen mir den Weg zum rot erleuchteten Plumpsklo.

Zimmerservice

Sasketchewan
© Copyright Silke Rameken 2020

Am nächsten Morgen pünktlich um 9 Uhr steht unser Frühstück vor dem Zelt. Eine Waschbütt gefüllt mit Leckereien. Wir müssen beim Anblick der mitgelieferten Pfanne lachen. Das schwergewichtige Teil wäre der Tod unseres Ultra-Light-Kochers gewesen. Wir machen uns mit der Waschbütt auf zu Brenda und Karl. Als Nordamerikaner sind die beiden selbstverständlich die Grill-Profis. Brenda zaubert leckere Blaubeer-Pancakes und Rührei mit Speck auf unsere Teller. Wir genießen das Frischluft-Frühstück mit Blick auf die Prärie.
Dass wir zwei Monate quer durch Kanada unterwegs sind, finden die Brenda und Karl toll. Wir haben unsere Straßenkarten mitgebracht. Was sollten wir uns anschauen, welche Streckenempfehlungen sie für uns hätten. Die beiden reisen gerne und kennen fast alle Ecken Kanadas. Ihre Empfehlungen sind zahlreich. Um nicht den Überblick zu verlieren, trage ich ihre Tipps direkt auf den Plänen ein. Nach einer Weile sind die Karten übersät mit Kreuzen, Ausrufezeichen und Notizen und wir ratloser als zuvor.
Im Gegensatz zu uns, haben die beiden nur eine Woche Zeit für ihren Trip und sind mit dem Flugzeug aus Toronto angereist. Karl möchte hier im Nationalpark seine tierische Bucket List „abarbeiten“. Also jede Menge Vögel, Auerhähne und Dachse sehen.

Million Dollar View

Am späten Nachmittag holen wir Brenda und Karl mit unserem Wagen ab. Gemeinsam wollen wir zum Million Dollar View fahren. Dort müsse man gewesen sein, hatten die Ranger geschwärmt. Es könne etwas holprig werden und wir sollten unbedingt auf der Schotterpiste langsam fahren. Irgendwo auf der Strecke käme eine 90-Grad-Kurve, die nicht zu unterschätzen sei.
Wir verlassen den Zeltplatz und folgenden der Piste Richtung Süden. Wir sehen eine Farm, auf dem Grundstück nebenan Bretterwände und Felsbrocken. Das ist also die Paintball-Arena. Kurz danach kommt die angekündigte Kurve. Gut, dass uns die Ranger gewarnt hatten! Walter Röhrl wäre von der Kurve begeistert gewesen. Wir passieren ein Weidegatter und aus der Schotterpiste wird ein Feldweg mit tiefen Fahrrillen. Mein Mann strahlt. Endlich Mal eine Strecke, auf der der Geländewagen und sein Fahrer ihr Können beweisen können.

Grasslands National Park
© Copyright Silke Rameken 2020

Auf einer Anhöhe warten zwei rote Adirondack-Gartensessel auf uns. Wir haben unser Ziel erreicht. Zu unseren Füßen erstreckt sich eine endlose Fläche aus Tälern, Tafelbergen und Hügeln. In der Senke grast eine einzelne Antilope, in der Ferne weidet eine Gruppe Rinder. Einsamkeit pur. Hinter welchem Hügel unser Zeltplatz liegt, können wir nur vermuten. Zwei Reiter mit Cowboy-Hut tauchen als winzige Punkte zwischen den Hügeln auf und verschwinden wieder.
Andächtig lauschen wir der Stille. Nach ein paar Minuten wird Karl ganz aufgeregt. Er flüstert: „Habt ihr den Kojoten gehört?“ Neugierig schauen wir uns um, entdecken aber nichts. Aus welcher Richtung das Geheul gekommen sei, wollen wir von ihm wissen. Er zuckt die Schultern. Inmitten der Hügel sind wir alle orientierungslos.
Die Sonne versinkt und taucht den Himmel in ein helles rosa als jemand fragt: „Wann wird es eigentlich dunkel?“ Plötzlich haben wir es alle eilig, zum Zeltplatz zurück zu kehren. Niemand von uns möchte sich hier verfahren. Schneller als gedacht ist man unerlaubt auf der US-amerikanischen Seite. Die „Grüne Grenze“ liegt hinter irgendeinem dieser Hügel.

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