Meine erste Begegnung mit Winnipeg: der kalte Wind, der mir entgegen bläst als wir gegen sechs Uhr morgens den Bahnhof verlassen. Müde ziehe ich meine Kapuze tief ins Gesicht. Die majestätische Bahnhofshalle menschenleer, ein paar Autos auf der Straße, vereinzelte Fußgänger. Die Stadt muss noch wach werden, so wie wir. Ein warmes Frühstück soll nach der langen
Zugfahrt unsere Lebensgeister wecken. Der nächste Coffee Shop ist unser. Am Nachbartisch sitzen drei Polizisten. Ob sie von der Nachtschicht kommen? Wenn ja, scheint es eine ruhige gewesen zu sein, alle sind bester Laune. Ich gähne in meine Kaffeetasse.
Go Jets, Go
Zwei Tage lassen wir uns durch die Stadt treiben. Winnipeg ist entspannt und wir sind es auch. Kein Verkehrschaos auf den Straßen, die Stadt ist sauber und hell. Okay, ganz entspannt ist Winnipeg dann doch nicht. Man ist im Eishockey-Fieber, denn die Winnipeg Jets spielen um den Einzug ins Halbfinale der Playoffs. Die unzähligen Fahnen, Leuchtreklamen und selbst gemachten Plakate sind nicht zu übersehen. Ob Bürogebäude, Kindergarten, Behörde, überall lesen wir „Go Jets, Go“.
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Mehrfach lesen wir das Wort whiteout“. Whiteout im Mai? Was hat das mit den Jets zu tun? Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Whiteout ist der Dresscode für Heimspiele. Der wahre Jets-Fan trägt dann weiß. Gut, dass das nächste Spiel ist ein Auswärtsspiel ist. Bei weiß hätten sowohl mein Mann als auch ich passen müssen.
Winnipeg im Wandel
Unseren morgendlichen Kaffee trinken wir im
Exchange District. Wir sitzen im ehemaligen Pumpenhaus. Hohe Decken, hohe Fenster, freigelegtes Mauerwerk und Blick auf den Red River. Das Viertel entstand zwischen 1880 und 1913. Boomtown Winnipeg war damals das Zentrum für Getreide-, Großhandel und Finanzwesen. Heute haben Restaurants, Boutiquen, Galerien und Museen die Industriebauten okkupiert und so für die Nachwelt erhalten.
Deutlich älter ist das Viertel
The Forks am Zusammenfluss von Red River und Assiniboine River. Hier hat man sich schon vor über 6000 Jahren getroffen und Handel betrieben. Mitte des 18. Jahrhunderts trafen hier die ersten europäischen Siedler ein. Heute locken Museen, Restaurants und Grünflächen über vier Millionen Besucher pro Jahr an.
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Wir umrunden mehrmals das neue Kanadische Museum für Menschenrechte. Ein eigenwilliger Bau, der nicht zu übersehen ist. Geschwungene Formen aus Glas in Verbindung mit kantigem Beton, ein Glasturm in der Mitte des Gebäudes. Auf mich wirkt die Architektur verschlossen, als wolle sie das in ihr liegende nicht preisgeben.
Melting Pot Winnipeg
Wir überqueren die futuristische Fußgängerbrücke
Esplanade Riel und betreten den Stadtteil St. Boniface. Am Fenster einer Konditorei drücken wir uns die Nase platt. In der Auslage liegen Köstlichkeiten wie Eclairs, Macarons und Millefeuilles. Im Buchladen um die Ecke unterhält sich der Besitzer in Französisch mit uns. Seit unserer Ankunft in Toronto haben wir nur Englisch gesprochen, gelesen. Um so überraschter sind wir jetzt über Winnipegs frankophones Viertel.
Wir wollen zur „Mother Church of Western Canada“, zur
Saint-Boniface Kathedrale. Die Kathedrale, die schon mehrfach abgebrannt, abgerissen und wieder aufgebaut wurde. Das riesige Portal lässt uns staunen. 1972 wurde das aktuelle Gotteshaus eingeweiht, eine Verschmelzung aus historischen Fassaden, Mauern und einem schlichten Neubau, den wir erst beim zweiten Hinsehen entdecken.
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Auf dem Friedhof liegt Louis Riel (1844 – 1885) begraben, Namensgeber für die futuristische Brücke. Manche hielten Riel für einen Geisteskranken, für die anderen war er ein Held im Kampf um die Rechte der Métis. Die Vorfahren der heutigen Métis waren die Kinder indianischer Frauen und europäischer Einwanderer.
Raus aus der Stadt
Egal in welche Richtung wir Winnipeg mit dem Auto verlassen, wir sehen endlose Getreidefelder. Alle Viertelstunde ein paar Getreidesilos, vielleicht ein Wohnhaus. Eine Farm erstreckt sich hier über viele Kilometer. Die meisten Autos, die uns begegnen, sind mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Verlässt man den Highway, gibt es nur noch Schotterpisten und jede Menge Staub.
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Die Straßen, leicht gewellt, laufen schnurgerade bis zum Horizont. Als ich das erste „Achtung Kurve“ Schild auf freier Strecke sehe, schüttele ich nur den Kopf. Was für ein Unsinn! Aber schon bald werde ich eines besseren belehrt. Nach zwanzig Kilometern geradeaus fahren eine leichte Kurve, gut einsehbar auf freier Strecke. Ich erlebe eine Sekunde des Schreckens: Wie war das mit dem Lenken?