Gandhi hat ihn gelesen, Martin Luther King auch. Ich bin Henry David Thoreau, dem US-amerikanischen Schriftsteller und Philosophen, bei meiner Cape Cod Recherche begegnet. Was ist von seinem eigenwilligen Geist hundertfünfzig Jahre nach seinem Tod in den USA noch zu spüren? Ich reise in Thoreaus Heimat Neuengland, um das herauszufinden und treffe auf Thoreau dort, wo ich ihn am wenigsten erwartet hätte. Auf einem Zeltplatz im Acadia Nationalpark. Das Rangerprogramm kündigt einen Vortrag für den heutigen Abend an. Thema des Vortrags sind Thoreaus astronomische Beobachtungen.
Ich blicke wieder zur Bühne. Auf der Leinwand lese ich, dass wir die CD The Fable True des Sängers David Mallett hören. Mallett liest aus Thoreaus Buch Die Wildnis von Maine. Entspannt lehne ich mich zurück, schließe ich meine Augen und lausche der Stimme.
Stimme und Gitarre verklingen, es wird still. Der Mann auf der Bühne erwacht aus seiner Erstarrung und bewegt sich ein, zwei Schritte vor. „Hallo, ich bin Tom und möchte Ihnen heute Abend etwas über Thoreau und seine astronomischen Beobachtungen erzählen.“ Pause. „Wer von Ihnen hat noch kein Buch von Thoreau gelesen?“
Toms Frage klingt streng. Glück gehabt, ich habe Thoreaus Cape Cod Buch gelesen. Ich versuche in der Dunkelheit einen Nicht-Thoreau-Leser zu entdecken, aber kein Arm geht nach oben. Wenn der Vortrag ein Thoreau-Quiz wird, bin ich schlecht vorbereitet. Aber meine Sorge ist unbegründet, Tom wird uns keine weiteren Fragen mehr stellen.
Vor einigen Jahren habe Tom beschlossen, die Thoreau-Tagebücher, die fast siebentausend Seiten umfassen, zu studieren. Ich bin beeindruckt. Sowohl von Thoreaus schreiberischer Ausdauer als auch von Toms Lesebegeisterung. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahre 1839 sei Tom auf die Beschreibung einer Sonnenfinsternis gestoßen, erklärt er. Tom, der sich selbst als begeisterten Hobbyastronom bezeichnet, sei sofort fasziniert gewesen und habe sich auf die Suche nach weiteren astronomischen Beschreibungen gemacht. Das Ergebnis seiner Suche: dieser Vortrag.
Von manch astronomischem Zusammenhang bin ich überfordert. Was sind sun dogs? Dass es sich dabei um spezifische Haloeffekt der Sonne handelt, verstehe ich Dank Thoreaus Skizzen und Toms Fotos. Weiter geht es mit Kometen, Sonnenfinsternis und Polarlicht. Während Thoreau über zwanzig Jahre in den Himmel schauen musste, erleben wir all diese Phänomene im Zeitraffer an nur einem Abend.
„Haben Sie noch Fragen?“ Toms Stimme verhallt in der Dunkelheit. Nach einigen Sekunden Stille wünscht er uns eine gute Nacht und ermahnt uns, Thoreau zu lesen.
Mich treibt die Neugier. Hat Tom alle Bücher von Thoreau gelesen? Ich geselle mich zu ihm und drei Herren, die sich im Dämmerlicht vor der Bühne zusammen gefunden haben. Tom schmunzelt als ich ihn befrage. „Nein, nein, ich habe nicht alles von Thoreau gelesen. Aber vieles. Besonders beeindruckt hat mich sein Buch Walden.“
Ich will wissen, ob Tom schon am Walden-See war. Rhetorische Frage, selbstverständlich kennt er den See. „In stressigen Zeiten hat es mir gut getan, zum See zu fahren, um dort in Ruhe nachdenken zu können.“ sagt Tom. Thoreau sei es in dem Buch Walden darum gegangen, herauszufinden wie er ein menschliches Leben führen könne, ohne von der Gesellschaft verschlungen zu werden. „Leider denken die Leute immer, dass das Buch vom Leben in der Wildnis handelt. Das ist aber falsch.“ fügt er kopfschüttelnd hinzu.
Tom hat noch einen Rat für mich. „Nutzen Sie diese Nacht, um den tollen Sternenhimmel Acadias am Sand Beach zu beobachten.“ Die anderen Herren nicken zustimmend. „Morgen kommen Wolken auf und dann ist es mit der guten Sicht vorbei.“ Ich befolge Toms Rat und fahre zum Strand.
Ich sitze im feuchten Sand und starre in die Finsternis. Wo der Strand aufhört und das Wasser anfängt, keine Ahnung. Ich habe den Drang, ein Stück zurück zu rutschen, um keine nassen Füße zu bekommen. Aber das Wasser bleibt, wo es ist. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Ich höre das Rauschen der Wellen. Manchmal ertönt das Läuten einer Glockenboje. Ich lege mich in den Sand und schaue nach oben. Über mir glitzern zahllose Punkte. Manche nur zu erahnen, andere strahlen hell als wollten sie rufen „Hallo, hier bin ich!“ Thoreau hätte bestimmt jede Menge über sie zu erzählen gewusst.
Ich überquere die Straße, die mich vom See trennt. Über eine Steintreppe, vorbei an der verlassen wirkenden Rettungsstation steige ich zu einem kleinen Strand hinab. Im Sand sitzt eine Frau in einem schwarzen Badeanzug und Strohhut und blickt auf das Wasser. Ich folge ihrem Blick und sehe am anderen Ende des Sees eine weiße Badekappe schwimmen. Das ist also der sagenumwobene Walden-See. Hier hat Thoreau zwei Jahre in einer einfachen und selbst gezimmerten Hütte gelebt. Der See liegt still, eingerahmt von Bäumen.
Ich will dem Uferweg folgen und lande auf einem schmalen Pfad, eingequetscht zwischen Hang und einem grünem Zaun, der den Zugang zum See versperrt. Wie auf Schienen führt der Weg in einigen Metern Abstand am Wasser entlang. Hinter mir höre ich Stimmen. Ich drehe mich um und sehe zwei Frauen mittleren Alters in schwarzen Gymnastikhosen, T-Shirt und Turnschuhen. Beschwingten Schrittes sind sie unterwegs. Da der Weg schmal ist, bleibe ich widerwillig stehen. „Ja, ja, es ist so eng hier. Danke, dass Sie Platz gemacht haben.“ grüßt mich eine der beiden Damen als sie an mir vorüberziehen. Ratlos blicke ich ihrem wippenden Pferdeschwanz hinterher.
Ich bin frustriert und überlege, mir den Abzweig zu Thoreaus Hütte zu ersparen. Überhaupt, die Hütte steht ja nicht mehr! Mehr aus Pflichterfüllung schlage ich die letzten Meter ein. Zwischen vereinzelten Bäumen stehen neun hüfthohe Steinquader, die andeuten sollen, genau hier würde Thoreaus Hütte stehen. Zwischen den Steinen steht ein junges Paar und fotografiert.
Etwas abseits der Steinquader liegt eine Pyramide aus handgroßen Steinen. Ein älterer Mann in brauner Trekkinghose, Hemd und Baseballkappe schichtet diese wie selbstverständlich um. Für mich ergibt sein Tun keinen Sinn, aber gespannt schaue ich ihm zu. Er steht auf und betrachtet sein Werk. Dann läuft er zu einem Rucksack und kramt darin. Er zieht ein Stück Stoff und ein Buch hervor. Diese trägt er zu den Steinen. Sorgfältig breitet er den Stoff aus und legt das Buch darauf. Das junge Paar beobachtet sein Treiben in gebührendem Abstand.
Neugierig geworden, gehe ich zu ihm. Der Stoff entpuppt sich als Fahne, auf der in großen blauen Buchstaben Free Manning – For America steht. Das Buch ist Thoreaus Werk über den zivilen Ungehorsam.
Der Mann spricht mich an. „Hi, ich bin Art. Ich demonstriere für die Freilassung von Bradley Manning.“ Einige Sekunden versuche ich erfolglos den Namen Manning zuzuordnen. „Der junge Soldat, der seit 2010 im Gefängnis sitzt." fügt Art hinzu. Ich erinnere mich. Bradley Manning, der der illegalen Weitergabe von Militärinformationen an Wikileaks beschuldigt wird. Bevor ich noch etwas erwidern kann, sprudelt es aus Art heraus. Er sei Richter gewesen und seit einigen Jahren in Rente. 2007 sei er für die US-amerikanische Regierung in den Irak gegangen, um ein Anti-Korruptionsbüro zu leiten. Schnell sei ihm klar geworden, dass niemand ein wirkliches Interesse daran habe, die Korruption zu bekämpfen. Während Art über seine Irakzeit redet, verliert sich sein Blick immer wieder in der Ferne.
„Meine Frau war gegen die Demonstration hier. Sie hat Angst, dass ich dafür festgenommen werde.“ sagt Art. „Aber Thoreau hätte mein Vorhaben bestimmt gut geheißen.“ fügt er schnell hinzu. Thoreau selbst habe sich ja auch gegen die Ungerechtigkeit des Staates aufgelehnt und sich geweigert, seine Wahlsteuern zu bezahlen und sei deswegen ins Gefängnis gekommen. Ich kenne die Geschichte. Im Gegensatz zu Bradley Manning saß Thoreau aber nur eine Nacht im Knast, da ein Verwandter seine Wahlschulden beglichen hat.
Art drückt mir einen Free-Manning-Flyer in die Hand und läuft wieder zu seinem Rucksack. Er kehrt mit einer Kamera zurück und bittet mich, ein Foto von ihm zu machen. Art kniet sich auf die Steine und hebt seine rechte Hand zum Victoryzeichen. Ich lichte den demonstrierenden Richter im Ruhestand ab.
Auf meinem Rückweg zum Parkplatz treffe ich eine Gruppe gut gelaunter Rentner. Einer von ihnen ruft mir schon von weitem zu: „Sie wissen doch bestimmt, wo es zu Thoreaus Hütte geht. Sie sehen so aus als hätten Sie Ahnung!“ Ich erkläre ihnen den Weg während eine Schulklasse gelangweilt an uns vorüberzieht. Die meisten Jugendlichen interessieren sich mehr für ihr Handy als für das, was ihnen der Fremdenführer über Thoreau erzählt. Ich muss an Toms Worte denken: „Ich habe als Jugendlicher zum ersten mal Thoreau gelesen. Damals habe ich seine Botschaft aber noch nicht verstanden. Ich musste erst meine eigenen Erfahrungen machen." Ich frage mich, ob sich der US-amerikanischen Jugend von heute trotz Facebook und Twitter Thoreau irgendwann erschließen wird.
Ein Blick in den Himmel
Es ist schon dunkel als ich mich auf den Weg zur Freilichtbühne mache. Beim Näherkommen höre ich eine Stimme und Musik. Bin ich etwa zu spät? Auf der Bühne steht ein Mann und schaut stumm Richtung Publikum. Eine kernige Männerstimme spricht begleitet von Gitarrenklängen. Ich setze mich auf den erst besten freien Platz und schaue mich um. Um mich herum sehe ich Mützen, Schals und dicke Jacken. Pärchen halten sich eng umschlungen. Viele haben den Kopf gesenkt.Ich blicke wieder zur Bühne. Auf der Leinwand lese ich, dass wir die CD The Fable True des Sängers David Mallett hören. Mallett liest aus Thoreaus Buch Die Wildnis von Maine. Entspannt lehne ich mich zurück, schließe ich meine Augen und lausche der Stimme.
Stimme und Gitarre verklingen, es wird still. Der Mann auf der Bühne erwacht aus seiner Erstarrung und bewegt sich ein, zwei Schritte vor. „Hallo, ich bin Tom und möchte Ihnen heute Abend etwas über Thoreau und seine astronomischen Beobachtungen erzählen.“ Pause. „Wer von Ihnen hat noch kein Buch von Thoreau gelesen?“
Toms Frage klingt streng. Glück gehabt, ich habe Thoreaus Cape Cod Buch gelesen. Ich versuche in der Dunkelheit einen Nicht-Thoreau-Leser zu entdecken, aber kein Arm geht nach oben. Wenn der Vortrag ein Thoreau-Quiz wird, bin ich schlecht vorbereitet. Aber meine Sorge ist unbegründet, Tom wird uns keine weiteren Fragen mehr stellen.
Vor einigen Jahren habe Tom beschlossen, die Thoreau-Tagebücher, die fast siebentausend Seiten umfassen, zu studieren. Ich bin beeindruckt. Sowohl von Thoreaus schreiberischer Ausdauer als auch von Toms Lesebegeisterung. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahre 1839 sei Tom auf die Beschreibung einer Sonnenfinsternis gestoßen, erklärt er. Tom, der sich selbst als begeisterten Hobbyastronom bezeichnet, sei sofort fasziniert gewesen und habe sich auf die Suche nach weiteren astronomischen Beschreibungen gemacht. Das Ergebnis seiner Suche: dieser Vortrag.
Von manch astronomischem Zusammenhang bin ich überfordert. Was sind sun dogs? Dass es sich dabei um spezifische Haloeffekt der Sonne handelt, verstehe ich Dank Thoreaus Skizzen und Toms Fotos. Weiter geht es mit Kometen, Sonnenfinsternis und Polarlicht. Während Thoreau über zwanzig Jahre in den Himmel schauen musste, erleben wir all diese Phänomene im Zeitraffer an nur einem Abend.
„Haben Sie noch Fragen?“ Toms Stimme verhallt in der Dunkelheit. Nach einigen Sekunden Stille wünscht er uns eine gute Nacht und ermahnt uns, Thoreau zu lesen.
Mich treibt die Neugier. Hat Tom alle Bücher von Thoreau gelesen? Ich geselle mich zu ihm und drei Herren, die sich im Dämmerlicht vor der Bühne zusammen gefunden haben. Tom schmunzelt als ich ihn befrage. „Nein, nein, ich habe nicht alles von Thoreau gelesen. Aber vieles. Besonders beeindruckt hat mich sein Buch Walden.“
Ich will wissen, ob Tom schon am Walden-See war. Rhetorische Frage, selbstverständlich kennt er den See. „In stressigen Zeiten hat es mir gut getan, zum See zu fahren, um dort in Ruhe nachdenken zu können.“ sagt Tom. Thoreau sei es in dem Buch Walden darum gegangen, herauszufinden wie er ein menschliches Leben führen könne, ohne von der Gesellschaft verschlungen zu werden. „Leider denken die Leute immer, dass das Buch vom Leben in der Wildnis handelt. Das ist aber falsch.“ fügt er kopfschüttelnd hinzu.
Tom hat noch einen Rat für mich. „Nutzen Sie diese Nacht, um den tollen Sternenhimmel Acadias am Sand Beach zu beobachten.“ Die anderen Herren nicken zustimmend. „Morgen kommen Wolken auf und dann ist es mit der guten Sicht vorbei.“ Ich befolge Toms Rat und fahre zum Strand.
Ich sitze im feuchten Sand und starre in die Finsternis. Wo der Strand aufhört und das Wasser anfängt, keine Ahnung. Ich habe den Drang, ein Stück zurück zu rutschen, um keine nassen Füße zu bekommen. Aber das Wasser bleibt, wo es ist. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit. Ich höre das Rauschen der Wellen. Manchmal ertönt das Läuten einer Glockenboje. Ich lege mich in den Sand und schaue nach oben. Über mir glitzern zahllose Punkte. Manche nur zu erahnen, andere strahlen hell als wollten sie rufen „Hallo, hier bin ich!“ Thoreau hätte bestimmt jede Menge über sie zu erzählen gewusst.
Ziviler Ungehorsam
Im Acadia Nationalpark hat Thoreau mich gefunden. Dieses mal möchte ich ihn finden und fahre zum Walden-See. Auf dem Parkplatz begrüßt mich ein Schild mit dem Hinweis, dass die maximale Anzahl gleichzeitiger Besucher am See auf tausend beschränkt sei. Dem Freigeist Thoreau, der mit großer Leidenschaft alleine durch die Wälder streifte, hätte es wohl nicht gefallen, sich an Sommertagen den See mit 999 anderen Besuchern zu teilen. Es ist Nebensaison und auf dem Parkplatz stehen nur ein paar Autos.© Copyright Silke Rameken 2020 |
Ich überquere die Straße, die mich vom See trennt. Über eine Steintreppe, vorbei an der verlassen wirkenden Rettungsstation steige ich zu einem kleinen Strand hinab. Im Sand sitzt eine Frau in einem schwarzen Badeanzug und Strohhut und blickt auf das Wasser. Ich folge ihrem Blick und sehe am anderen Ende des Sees eine weiße Badekappe schwimmen. Das ist also der sagenumwobene Walden-See. Hier hat Thoreau zwei Jahre in einer einfachen und selbst gezimmerten Hütte gelebt. Der See liegt still, eingerahmt von Bäumen.
Ich will dem Uferweg folgen und lande auf einem schmalen Pfad, eingequetscht zwischen Hang und einem grünem Zaun, der den Zugang zum See versperrt. Wie auf Schienen führt der Weg in einigen Metern Abstand am Wasser entlang. Hinter mir höre ich Stimmen. Ich drehe mich um und sehe zwei Frauen mittleren Alters in schwarzen Gymnastikhosen, T-Shirt und Turnschuhen. Beschwingten Schrittes sind sie unterwegs. Da der Weg schmal ist, bleibe ich widerwillig stehen. „Ja, ja, es ist so eng hier. Danke, dass Sie Platz gemacht haben.“ grüßt mich eine der beiden Damen als sie an mir vorüberziehen. Ratlos blicke ich ihrem wippenden Pferdeschwanz hinterher.
Ich bin frustriert und überlege, mir den Abzweig zu Thoreaus Hütte zu ersparen. Überhaupt, die Hütte steht ja nicht mehr! Mehr aus Pflichterfüllung schlage ich die letzten Meter ein. Zwischen vereinzelten Bäumen stehen neun hüfthohe Steinquader, die andeuten sollen, genau hier würde Thoreaus Hütte stehen. Zwischen den Steinen steht ein junges Paar und fotografiert.
Etwas abseits der Steinquader liegt eine Pyramide aus handgroßen Steinen. Ein älterer Mann in brauner Trekkinghose, Hemd und Baseballkappe schichtet diese wie selbstverständlich um. Für mich ergibt sein Tun keinen Sinn, aber gespannt schaue ich ihm zu. Er steht auf und betrachtet sein Werk. Dann läuft er zu einem Rucksack und kramt darin. Er zieht ein Stück Stoff und ein Buch hervor. Diese trägt er zu den Steinen. Sorgfältig breitet er den Stoff aus und legt das Buch darauf. Das junge Paar beobachtet sein Treiben in gebührendem Abstand.
Neugierig geworden, gehe ich zu ihm. Der Stoff entpuppt sich als Fahne, auf der in großen blauen Buchstaben Free Manning – For America steht. Das Buch ist Thoreaus Werk über den zivilen Ungehorsam.
Der Mann spricht mich an. „Hi, ich bin Art. Ich demonstriere für die Freilassung von Bradley Manning.“ Einige Sekunden versuche ich erfolglos den Namen Manning zuzuordnen. „Der junge Soldat, der seit 2010 im Gefängnis sitzt." fügt Art hinzu. Ich erinnere mich. Bradley Manning, der der illegalen Weitergabe von Militärinformationen an Wikileaks beschuldigt wird. Bevor ich noch etwas erwidern kann, sprudelt es aus Art heraus. Er sei Richter gewesen und seit einigen Jahren in Rente. 2007 sei er für die US-amerikanische Regierung in den Irak gegangen, um ein Anti-Korruptionsbüro zu leiten. Schnell sei ihm klar geworden, dass niemand ein wirkliches Interesse daran habe, die Korruption zu bekämpfen. Während Art über seine Irakzeit redet, verliert sich sein Blick immer wieder in der Ferne.
„Meine Frau war gegen die Demonstration hier. Sie hat Angst, dass ich dafür festgenommen werde.“ sagt Art. „Aber Thoreau hätte mein Vorhaben bestimmt gut geheißen.“ fügt er schnell hinzu. Thoreau selbst habe sich ja auch gegen die Ungerechtigkeit des Staates aufgelehnt und sich geweigert, seine Wahlsteuern zu bezahlen und sei deswegen ins Gefängnis gekommen. Ich kenne die Geschichte. Im Gegensatz zu Bradley Manning saß Thoreau aber nur eine Nacht im Knast, da ein Verwandter seine Wahlschulden beglichen hat.
Art drückt mir einen Free-Manning-Flyer in die Hand und läuft wieder zu seinem Rucksack. Er kehrt mit einer Kamera zurück und bittet mich, ein Foto von ihm zu machen. Art kniet sich auf die Steine und hebt seine rechte Hand zum Victoryzeichen. Ich lichte den demonstrierenden Richter im Ruhestand ab.
Auf meinem Rückweg zum Parkplatz treffe ich eine Gruppe gut gelaunter Rentner. Einer von ihnen ruft mir schon von weitem zu: „Sie wissen doch bestimmt, wo es zu Thoreaus Hütte geht. Sie sehen so aus als hätten Sie Ahnung!“ Ich erkläre ihnen den Weg während eine Schulklasse gelangweilt an uns vorüberzieht. Die meisten Jugendlichen interessieren sich mehr für ihr Handy als für das, was ihnen der Fremdenführer über Thoreau erzählt. Ich muss an Toms Worte denken: „Ich habe als Jugendlicher zum ersten mal Thoreau gelesen. Damals habe ich seine Botschaft aber noch nicht verstanden. Ich musste erst meine eigenen Erfahrungen machen." Ich frage mich, ob sich der US-amerikanischen Jugend von heute trotz Facebook und Twitter Thoreau irgendwann erschließen wird.